Lebenserfahrungen – was daraus geworden ist oder noch werden könnte

Vortragsreihe Offenen Fenster vom 2. März 2016

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Referentin und Autorin Elsi Altorfer, Pfarrerin i.R. Winterthur

Unsere Gesichter sind vom Leben gezeichnet. Das Leben hat Spuren hinterlassen, so wie ich es einmal auf einer Karte gelesen habe: Leben bedeutet Veränderung. Zeit hinterlässt Spuren. Alter erzählt Geschichten. In der Bibel wird der Mensch manchmal mit einem Baum verglichen. Mir gefällt dieses Bild und ich werde es heute verwenden. Natürlich bleibt es ein Bild und man kann nicht alles 1:1 übertragen, aber vieles.
Die Jahrringe eines Baums sagen etwas aus über dessen Erlebnisse. Sie zeigen das Alter eines Baumes an. Sie verraten etwas über die Bedingungen, unter denen ein Baum gewachsen ist. Das Muster der Jahrringe hängt von verschiedenen Faktoren ab, wie Klima, Standort und Bewirtschaftung des Waldes durch den Menschen. Breite Ringe zeigen kräftiges Wachstum an, schmale Ringe reden von schlechten Jahren für den Baum mit z.B. wenig Regen oder vielen Schädlingen. Ovale Ringe mit unterschiedlich starkem Wachstum deuten darauf hin, dass der Baum an einem Hang stand oder von einer bestimmten Seite starkem Wind ausgesetzt war.
Mit unserem Leben ist es auch so. Die verschiedenen Erlebnisse hinterlassen Spuren. Zu jedem Leben gehören ganz verschiedene Erfahrungen.
Zur Kindheit gehört das Eingebettet sein in eine Familie, Fürsorge erfahren. Entdecken der Welt, Lernen in jeder Form. Das ist nicht allen garantiert. Es kann auch in der Kindheit schwierige Erfahrungen geben wie Gewalt, Vernachlässigung. Schulprobleme.
Die Jugend ist geprägt von der Persönlichkeitsentfaltung, dem Suchen des eigenen Weges, Berufswahl, Lebensgestaltung. Ziele erreichen wie Abschluss einer Berufslehre oder Studienabschluss sind wichtige Erfahrungen. Heirat, Familiengründung oder Ehelosigkeit. Freundschaften, treue Begleiter, Berufliche Karriere.
Zu jedem Leben gehören auch Schwierigkeiten. Beruflich: Übergangen werden bei Beförderung, Wirtschaftlich: Firmen, die Konkurs machen oder übernommen werden, politische Verhältnisse, die ein Engagement im Ausland verunmöglichen, gesundheitliche Einbrüche, Unfall usw.
In irgendeiner Weise gehört auch Scheitern, Ziele nicht erreichen, schuldig werden zu jeder Person.
Wir erleiden Verluste z.B. der Eltern, des Ehepartners, eines Kindes oder anderer nahestehender Personen, müssen Abschied nehmen.

Jagsthausen 07.12 (6) (Medium)Erleben wieder Hoffnung, neuen Aufbruch und werden alt.
Die letzte grosse Veränderung ist das Sterben.
Solche Erlebnisse teilen wir mit vielen. Viele sind krank geworden, haben Erfolg und Glück gehabt, haben Verluste erlitten, sind irgendwo gescheitert. In diesem Sinn sind die Ereignisse unseres Lebens nicht einzigartig. Aber unser Umgang mit diesen Erfahrungen ist einzigartig. So kann es sein, dass Menschen, die ähnliche Erlebnisse machen, ganz verschieden darauf reagieren. Das hängt zusammen mit unserer Persönlichkeit und mit den Ressourcen, die wir haben. Es gibt Menschen, die wachsen und reifen an Widerständen, sie lernen aus ihren Fehlern und sie sehen auch nach Verlusten immer wieder etwas Lebenswertes. Andere geben auf, trauern ewig dem nach, was sie nicht haben, werden hart und verbittert. Die Gegebenheiten können wir nicht beeinflussen, sie sind wie sie sind. Unsere Einstellung dazu und wie wir damit umgehen, das ist einzigartig. Davon hängt ab, was aus unseren Erfahrungen wird, ob sie fruchtbar werden für uns und andere oder ob sie unser eigenes und das Leben anderer belasten.
Unsere Einstellung und unser Umgang
Unsere Einstellung zum Leben ist geprägt davon, wie wir aufgewachsen sind, welche Einstellungen zum Leben uns vermittelt wurden. Als erwachsene Menschen lernen wir aber auch selber zu denken und können uns neu einstellen. Bis an unser Lebensende sind Veränderungen möglich, allerdings nicht unbedingt mehr im gleichen Mass wie früher. Wichtig ist, an wem oder was wir uns orientieren, welche Werte für unser Leben wesentlich sind. Ich begegne immer wieder Menschen, die den Eindruck haben, das Leben müsse ihnen alles bieten, was sie sich wünschen. Sie hätten ein Anrecht darauf. Wer hat uns das versprochen? Das Leben ist ein wunderbares Geschenk. Bei jedem Baby, das mir begegnet, denke ich dies. Es gibt viele Möglichkeiten. Das Leben ist aber auch eine grosse Aufgabe, die uns gestellt ist und in der es ganz verschiedene Lektionen zu lernen gilt, wie zuverlässig und treu sein. Sich den Herausforderungen stellen, lernen sich zu überwinden, Ausdauer üben, geniessen und verzichten lernen. Festhalten und Loslassen, siegen und verlieren, vertrauen und sich abgrenzen.
Es ist eine wunderschöne Zeit, wenn Bäume blühen. Da ist so viel zu sehen von Lebenskraft und Lebensfreude. Es ist auch schön, wenn sich Leben entfaltet, wenn man als junger Mensch merkt, was in einem steckt und man eine Ausbildung machen kann. Lehrabschluss oder Studienabschluss sind dann Höhepunkte. Eine Stelle finden, wo man sich seiner Gaben entsprechend einbringen kann, ist wichtig. Karriere machen, Erfolg haben, das freut uns..
Menschliche Beziehungen pflegen, Partnerschaft, Heirat, Familiengründung oder Leben als Single. Wenn das Leben gelingt und vieles möglich macht erfahren wir Bereicherung.

Frühlimg 2015 (Medium) Das Gute geniessen und dafür danken
Das Gute des Lebens soll nicht für selbstverständlich genommen werden. Wer es geniesst und dafür dankt, hat mehr vom Leben. Das gibt Zufriedenheit. Es gibt die Geschichte von der Frau die am Morgen ein paar Bohnen in die linke Jackentasche steckte. Bei jedem guten Erlebnis durch den Tag legte sie eine davon in die rechte Tasche. Abends nahm sie die Bohnen aus der rechten Tasche und dachte über die guten Erlebnisse nach, freute sich daran und dankte. Wer dankt, ist reich. Wer alles für selbstverständlich hält und den Eindruck hat, das Leben müsse ihm alle Wünsche erfüllen, wird weniger zufrieden sein. Wer dankbar ist, kommt auch eher auf die Idee, dass das Gute, das ihm geschenkt ist, auch eine Verpflichtung sein könnte, dass man mit dem, was man hat, anderen dienen könnte. Ich behaupte: wer das tut, hat mehr vom Leben, als wer alles für sich allein haben will.
Gute Ereignisse, die Freude machen zu akzeptieren, fällt uns in der Regel nicht schwer. Dankbarkeit macht das Leben reich. Und die Bereitschaft mit anderen zu teilen macht glücklich. Das Leben wird kostbarer, wenn wir danken. Es lohnt sich, nachzudenken, wofür man zu danken hat. Wenn ihr euer Leben mit einem Baum vergleicht, wofür habt ihr zu danken? Für den Grund, in dem ihr verwurzelt seid? Für den offenen Himmel über euch? Für das, was zum Blühen gekommen ist? Für Früchte, die gewachsen und gereift sind? Was ist euch anvertraut, damit ihr mit dem anderen dient? Es mit andern teilt? Zum Danken ist es nie zu spät!
Im Alter wird der Radius des Lebens enger. Nicht mehr alles ist möglich. Da ist es wichtig, sich an viele gute Erlebnisse von früher zu erinnern. „Erinnerungen sind wie Rosen im Winter“ habe ich einmal gelesen. Wer guten Erinnerungen Raum gibt, kann ein dankbares Herz bewahren, auch wenn die Grenzen des Lebens enger wird.

20150812_125138 (Medium) Umgang mit schwierigen Erfahrungen
Im Leben gelingt nicht alles. Wir erleben Niederlagen oder Misserfolge, die wehtun. Man kann übersehen werden bei Beförderungen. Menschen können enttäuschen. In jugendlichem Übermut kann man sich auch überschätzen und fällt auf die Nase. Manchmal werden Bäume veredelt. Äste werden abgeschnitten und edle Zweige eingepfropft, damit bessere Frucht wachsen kann. Manche schmerzliche Erfahrung im Leben dient vielleicht dazu, dass bessere Frucht in uns reifen soll. Manchmal begegnet uns Widerstand. Dadurch können wir uns lähmen lassen oder erstarken. In einem Interview wurde Dr. Guido Zäch, der Gründer des Paraplegiker-Zentrums gefragt, wie er mit dem Widerstand, den er erlebt habe, umgegangen sei. Er sagte: „Der Widerstand hat mich motiviert, noch mehr zu geben. Ohne Widerstand hätten wir nie erreicht, was schlussendlich möglich geworden ist.“
Zu jedem Leben gehören schwierige Erlebnisse. Nicht alle Ziele erreichen wir, Scheitern gehört zum Leben. Durchkreuzte Lebenspläne oder Wünsche. Krankheit oder Unfall, Niederlagen und Misserfolge, Verlust von geliebten Menschen durch Tod oder Scheidung, Verlust von Arbeit, Heimat etc., Existenznöte, Lasten und Leiden verschiedener Art. Das kann ein Leben sehr belasten!
Es gibt Leute, die sagen, man dürfe nicht fragen WARUM, wenn einem etwas Unverständliches geschehe. Ich finde das unmenschlich, denn die Fragen kommen einfach.
Ich finde die Aussage von Rainer Maria Rilke hilfreich: Wir sollen versuchen, die Fragen lieb zu haben, sie zu leben, vielleicht leben wir dann allmählich in die Antwort hinein.
In meinem Leben gibt es ein paar offene Fragen, auf die ich keine Antwort bekommen habe. Eines Tages haben diese Fragen ihre Bedeutung verloren, weil ich gemerkt habe, dass meine Erfahrung mir hilft, andere zu verstehen und einen Weg mit ihnen zu gehen. In der Aufgabe als Spitalseelsorgerin habe ich auf die Fragen vieler Menschen auch keine Antwort gehabt, aber ich habe verstehen können, was sie bewegt und ich konnte mit ihnen die Fragen aushalten. Das war für mich wie eine Frucht meines eigenen Leidens.
Ein Baum muss manchen Frost, viel Hitze, Sonnenschein und Regen und manchen Sturm überstehen bis Früchte an ihm reifen. So ist es auch mit uns Menschen.
Es gibt aber Verlusterfahrungen, die Menschen so tief treffen, dass sie sich wie vom Leben abgeschnitten vorkommen, wie z.B. der Tod eines Kindes, des Partners, ein Unfall, der das Leben massiv verändert. Körperliche Einschränkungen. Flucht. Auch die Pensionierung kann eine solche Erfahrung sein. Oder es wird einem schmerzlich bewusst, dass etwas, was man sich erträumt hat, gar nie gelebt werden konnte, z.B. durch unfreiwillige Kinderlosigkeit, unfreiwillige Ehelosigkeit.
Solche Erfahrungen steckt man nicht einfach weg. Sie sind mit einem Trauerweg verbunden, der bei jeder Person anders aussieht, aber nötig ist.
Auch Menschen können einander trösten Trauer braucht seine Zeit. Sie ist nötig und sie ist individuell. Jede/r hat den eigenen Weg. Es ist wichtig, sich die Zeit zu gönnen und den eigenen Weg zu finden um schwierige Erfahrungen akzeptieren zu können.
Nach dem Grounding der Swissair im Oktober 2001 war in der Flughafenkapelle zu lesen:
„Wenn du verlierst, wofür du gelebt hast, tritt neben dem Schmerz Stillstand ein.
Nimm dir Zeit zum Trauern, aber schliesse nie zu lange die Augen im Schmerz, denn sonst kannst du nicht sehen, wofür es  sich erneut lohnt zu leben“.
Trauer ist nötig, aber dann braucht es auch wieder die Zuwendung zum Leben. Die Ausrichtung ist wichtig. Ich kann mich auf den Verlust oder auf die Last, die mir aufgebürdet wurde fixieren oder das sehen, was mir gegeben ist, was lebenswert ist und was mir als Aufgabe gestellt ist. Dazu braucht es manchmal eine ganz bewusste Entscheidung.

IMG_0158 (Medium) Standhaftigkeit braucht gute Verwurzelung
Um im Sturm zu überleben, braucht es gute Wurzeln. Die Wurzeln sind oft nicht sichtbar, aber nötig, damit wir Kraft schöpfen können. Es ist ein Geschenk, wenn man in Kindheit und Jugend gute Wurzeln schlagen durfte in der Familie und auch im Glauben. Und es braucht auch Mitmenschen, Gemeinschaft mit anderen Menschen, mit denen wir austauschen können. Man kann auch im Alter noch neue Beziehungen mit Menschen aufbauen. Es ist nicht mehr so leicht, aber es kann gelingen. Das Offene Fenster soll auch dazu dienen, Beziehung zu erleben und zu vertiefen. Dass unser Körper Nahrung braucht ist selbstverständlich, aber Geist und Seele benötigen sie auch. Wir brauchen Worte, die uns Halt und Kraft geben. Wir brauchen Nahrung für unser Gemüt. Etwas, das uns zum Staunen bringt. Das Schöne in vielerlei Formen, Musik, ein gutes Buch, eine Ausstellung, ein Ausflug, Blumen, ein schön angerichtetes Essen. Die Seele nährt sich an dem, woran sie sich freut. sagte Augustin. Es tut gut, sich zu überlegen: Wo bin ich verwurzelt? Gehen meine Wurzeln tief genug oder wäre es wichtig, tiefer zu graben? Was nährt mich? Was tut meiner Seele gut?

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Loslassen
Bäume lassen im Herbst die Blätter fallen, um gut durch den Winter zu kommen. Wenn früh im Herbst, wenn das Laub noch dran ist, eine richtige Ladung Schnee kommt, brechen die Äste viel leichter, als wenn sie kahl sind. Auch loslassen ist nötig, um das Leben zu bestehen. So wichtig es ist, gute Erinnerungen zu bewahren, so wichtig ist es auch, bittere Erinnerungen los zu lassen. Bitterkeit und Unversöhnlichkeit sind schwere Lasten. Sie machen Menschen hart und unfruchtbar. Auch Schuld kann manchmal drücken und niemand von uns kommt schuldlos durchs Leben.
Mit dem Älterwerden gilt es auch Aufgaben und Verantwortungen los zu lassen. Und manchmal auch viele Dinge wie ein Haus, eine Wohnung, viele Sachen. Loslassen ist nicht immer einfach, manchmal braucht man Menschen, vielleicht auch Fachleute, die einem dabei helfen. Niemand muss allein mit allem fertig werden.

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Vielleicht kommen wir uns dann manchmal vor wie ein ganz kahler Baum. Aber auch ein kahler Baum kann wunderschön leuchten, wenn Schnee und Sonne oder eben Gottes Licht und Glanz auf ihn fällt.

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