Wenn in der Kirche Luxuswohnungen entstehen

In den letzten 25 Jahren wurden schweizweit rund 200 Kirchen, Kapellen und Klöster zumindest teilweise aufgegeben. Eingezogen sind gutbetuchte Mieter, Discogänger oder andere religiöse Gemeinschaften.

Erich Aschwanden / Daniel Gerny / Marie-José Kolly    NZZ

An Heiligabend müssen Kirchgänger rechtzeitig da sein, um noch einen Sitzplatz zu bekommen. Doch an den meisten anderen Sonntagen herrscht in den am 24. Dezember brechend vollen Gotteshäusern gähnende Leere. In vielen Städten und Dörfern wurden in den letzten Jahren kirchliche Räume aufgrund der Entkonfessionalisierung zu gross oder gar überflüssig. Ausserdem mussten viele unter Nachwuchsmangel und Überalterung leidende Orden zum Teil jahrhundertealte Klosteranlagen aufgeben.

In den letzten 25 Jahren wurde in der ganzen Schweiz für 200 Kirchen, Kapellen und Klöster eine neue Verwendung gefunden. Dies zeigt eine neue, von der Universität Bern erstellte Datenbank. Aus Sicht des Leiters des Projektes, des Kunsthistorikers Johannes Stückelberger, wird die Zahl in den kommenden Jahren noch steigen. Doch es geht für die Forscher der Universität Bern um mehr als nur um ein Abbild eines scheinbar unaufhaltsamen Prozesses. «Die Datenbank will aufzeigen, welche Lösungen man für die Thematik in der Schweiz gefunden hat, was funktioniert, wo sich Probleme ergaben, worüber derzeit diskutiert wird», erklärt Stückelberger.

Ein knappes Drittel der 96 Kirchen aus der Datenbank wird weiterhin kirchlich genutzt, ein weiteres Drittel hat nun eine profane Funktion: etwa als Luxuswohnung, Atelier oder Bestattungsunternehmen.

⓵ Die methodistische Wesley-Kapelle in Bern ist nun eine Bühne für Kleinkunst und Kabarett.

⓶ In der église apostolique des Addoz in Boudry entstand eine Kinderkrippe.

⓷ Die église du Petit-Lancy in Genf diente als Mosterei und Getränkelager, nun hat ein Sportklub sie gekauft.

⓸ Die Kirche Rosenberg in Winterthur dient vorübergehend als Asylunterkunft.

Mantelnutzung bewährt sich

Parallelen zur herkömmlichen Immobilienbewirtschaftung sind unübersehbar – zum Beispiel zur Nutzung von Fussballstadien wie dem Vogelnest in Peking oder dem St.-Jakob-Park in Basel, die bezeichnenderweise gerne als Kathedralen der Neuzeit etikettiert werden. Auch betrieblich ergeben sich ähnliche Lösungsansätze: Mit den Spielen beziehungsweise den Gottesdiensten allein lässt sich der Unterhalt der teuren Bauten in vielen Fällen nicht finanzieren und rechtfertigen. Ladenlokale und Wellness- sowie Unterhaltungsangebote sorgen deshalb in neuen Sportarenen seit einigen Jahren für eine kontinuierlichere Auslastung der Infrastruktur. Stückelberger hält eine solche Mantelnutzung für ein zukunftsweisendes Modell auch bei sakralen Bauten. Am Schweizer Kirchenbautag, zu dem sich im August 2017 rund 160 Vertreter von Kirche, Denkmalpflege und Öffentlichkeit trafen, wurde eine solche Mischnutzung ausdrücklich empfohlen. Bis jetzt ist sie aber relativ selten: Nur 8 der 96 umgenutzten Kirchen beherbergen sowohl kirchliche als auch profane Akteure.

Dass das Konzept aber funktioniert, zeigt sich bei der ehemaligen Maihofkirche in der Stadt Luzern. Aus der 1941 gebauten Kirche St. Josef wurde nach einem Umbau im Jahr 2013 der MaiHof. Der ursprüngliche Kirchensaal dient neu als multifunktionaler Raum für 300 bis 400 Personen. Hier finden neben liturgischen Feiern auch Ausstellungen, Konzerte, Kongresse und Bankette statt. Das ehemalige Pfarrhaus und der Pfarreisaal werden für gemeinnützige Zwecke wie Kindergarten und Spielgruppe vermietet. Eine Kapelle im Untergeschoss ist weiterhin ausschliesslich für Liturgie und Stille reserviert. Ziel des Projektes ist es, Seelsorge und Quartierarbeit zu verbinden.

Glaubensgemeinschaften haben breites Immobilienportfolio

Ein ähnliches Konzept besteht bereits seit 1994 in der Stadt Basel. Dort hat die evangelisch-reformierte Kirche die bedeutendste neugotische Kirche der Schweiz dem ökumenischen Verein Offene Kirche Elisabethen übergeben. Seither finden hier neben gottesdienstlichen Feiern auch Discos, Diskussionsrunden und Chorkonzerte statt. Im Pfarrhaus sind drei Projekte untergebracht, die sich an Flüchtlinge richten und an Freiwillige, die Flüchtlinge betreuen. «Wichtig ist, dass die Räume im Besitz der Kirche bleiben und dass die Kirche sie partiell auch noch selber nutzt. Darüber hinaus soll sie aber durchaus auch Angebote zur Verfügung stellen, die über das traditionell Kirchliche hinausgehen», betont Stückelberger. Bewährt hat sich auch die Übergabe von Kirchen zur Nutzung durch andere religiöse Gemeinschaften. So wurde etwa die ehemalige evangelisch-reformierte St.-Alban-Kirche in Basel an die serbisch-orthodoxe Kirche vermietet.

⓵ In Melide kaufte die russisch-orthodoxe Gemeinschaft die reformierte Kirche.

⓶ In Wollishofen entstand aus der neuapostolischen Kirche ein Neubau mit Luxuswohnungen.

Auch die Fachleute von Wüest & Partner kommen zum Schluss, dass die Umnutzung oft die einzige Variante ist, damit klassische Kirchen mit schützenswertem Status nicht verkommen. Gemäss einer 2014 veröffentlichten Studie gibt es in der Schweiz heute mehr als 6000 Bauten christlicher Provenienz. Weiter bestehen rund tausend Friedhöfe sowie bis zu hundert Sakralbauten, die den nichtchristlichen Glaubensrichtungen zuzuordnen sind. Ausser über diese meist historischen Gebäude verfügen die religiösen Gemeinschaften gemäss Wüest & Partner zusätzlich über zahlreiche Immobilien wie Pfarrhäuser, Kirchgemeindesäle oder Wohnungen, die als «Betriebsliegenschaften» oder «Renditeobjekte» dienen. Die Bewirtschaftung und der Unterhalt solcher Bauten werden für die häufig unter Geldsorgen leidenden Kirchgemeinden zur Belastung – oder wie es Wüest & Partner formulieren: zu einer «schwierigen Aufgabe mit himmlischen Chancen».

Die Kirche bleibt im Dorf

Die Elisabethenkirche in Basel und der MaiHof in Luzern sind aus Stückelbergers Sicht besonders gelungene Beispiele für eine Umnutzung von Kirchen. Doch nicht immer scheint der Weg für eine Kirchgemeinde vorgezeichnet: Im Juni 2013 beschloss die reformierte Kirchgemeindeversammlung im kleinen Aargauer Dorf Turgi, ihre aus dem Jahr 1960 stammende Kirche abzubrechen. Eine Sanierung erwies sich als zu teuer. An derselben Stelle sollten eine neue Kirche sowie Alterswohnungen errichtet werden. Doch gegen diesen nüchtern, betriebswirtschaftlich begründeten Entscheid regte sich Widerstand: 379 Einwohner und Einwohnerinnen aus Turgi unterzeichneten die Petition «Die Kirche bleibt im Dorf» und setzten damit den Gemeinderat von Turgi massiv unter Druck. Das Baugesuch der Kirche wurde vorerst auf Eis gelegt. Inzwischen wird der Sakralbau als Schutzobjekt bezeichnet und muss stehen bleiben.«Eine Kirche reisst man nicht so schnell ab», konstatiert Stückelberger. So ist auch lediglich bei 17 der 96 Kirchen aus dem Datensatz ein Abriss geplant.

Dass der Protest aus der breiten Bevölkerung kommt – und nicht in erster Linie aus dem Kreis der aktiven Kirchenmitglieder –, erstaunt Stückelberger keineswegs. «Wer in der Institution Kirche aktiv ist, hat häufig weniger Mühe, eine Kirche preiszugeben», stellt er fest. Immer wieder höre er, man wolle lieber in Menschen investieren statt in Mauern. Zu einem ähnlichen Befund kommt der Basler Architekt Jacques Herzog vom Büro Herzog & de Meuron.

Die Städte Bern, Basel und Genf nutzen viele Kirchen um – die Alpenkantone kaum