Vortragsreihe Offenes Fenster vom 06.04.2016
Referat: Dr. med. Jutta Reiter, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie
Aus welchem Holz bin ich geschnitzt?
Was steckt in mir?
Entwicklungsaufgaben im Alter
Die Weltwoche vom 30.9.2014 beinhaltet einen Artikel mit der Überschrift: “Ab dem 70. Lebensjahr wird bei vielen alles anders”.
Dieser Artikel widerlegt die Aussage: “Opa ist eben so, der ändert sich nicht mehr”. Die Persönlichkeit eines Menschen kann sich im Laufe des Lebens noch einmal grundlegend ändern – besonders im Alter. Jeder vierte Mensch nimmt im Alter um die 70 nochmals eine ganz andere Persönlichkeit an.
Früher als noch auf dem Holzofen gekocht wurde, brauchte man zuerst ein Fichtenscheit. Nach dem Anheizen brauchte es Buchenscheite, denn diese geben eine beständige lange Hitze ab.
Jetzt die Frage an Sie: Sind Sie eher Fichte oder Buche? Sind Sie schnell begeistert und dann klingt es wieder ab oder brauchen Sie lange bis Sie sich auf etwas einlassen, aber wenn, dann bleiben Sie dabei? Welche Art ist jetzt wichtiger oder besser?
Das Ofenbild zeigt, dass weder Buche noch Fichte die richtige Version ist, sondern beide sind richtig und wichtig. Oder sind sie ein fein gemasertes Holz, sprich eher sensibel oder haben sie viele Äste und ärgern sich womöglich über diese harten Stellen in Ihnen? Gehören Sie eher zur Art der langen dürren oder der kurzen dicken Bäume, der aufstrebenden Pappeln oder zur Haselnussstaude? Sind Sie vielleicht ein Exot wie das Teakholz oder einfach banal wie die Fichte oder Buche, wo es in unseren Breiten unzählige gibt? Welcher Art Holz entsprechen sie?
Laut unseren Untertiteln (geschnitzt) geht es aber um die Bearbeitung dieses Holzes, an das jemand Hand angelegt hat und aus diesem Stück Holz etwas gemacht hat.
In welcher Umgebung ist dieser/unser Baum. Er brauchte einen Boden, wo er seine Wurzeln ausstrecken konnte, Asphalt wäre für ihn nicht der richtige Boden gewesen und wahrscheinlich auch nicht der Sand in den Dünen, sondern gute Walderde, jener Boden für den er gedacht ist.
Die Umgebung, die Nahrung und seine eigene Anlage ist nötig, damit aus ihm das werden konnte, was er jetzt ist, nämlich genau dieses Holz und nicht ein Stein. So ist es auch mit uns Menschen. Der Mensch der Sie sind, hat mit Ihren Genen, Ihrer Umwelt (Prägung) und mit Ihrer Eigenverantwortung zu tun.
Wodurch wir Persönlichkeit werden, hat die Gelehrten über viele Jahrhunderte schon beschäftigt und es gab im Laufe der Geschichte dazu die unterschiedlichsten Richtungen und Meinungen:
Ist der Mensch ein Produkt seiner Erbfaktoren oder seiner Umwelt?
Die unterschiedlichen Auffassungen dazu lassen sich in 2 Gegenpolen aufzeigen:
Der Mensch ist von Anfang an ein fertiges Wesen (gut oder böse)
Über Jahrhunderte hielt sich die Meinung, dass der Mensch schon als fertiges Wesen auf die Welt kommt und sich diese Anlage dann klar ausformen. So lässt sich auch erklären, warum viele Menschen sich in ihr Schicksal ergeben haben und nicht dagegen ankämpften, da ja Veränderung unter diesen Umständen nicht möglich ist.
Unbestritten ist, dass wir eine genetische Anlage haben und diese sich in unserer Entwicklung auswirken wird. Aber sie ist nicht einzig bestimmend für unsere Persönlichkeit.
Das zeigt sich z. B. im häufig gravierenden Unterschied des 1. und 2. Kindes einer Familie und zwar schon bei Neugeborenen. Oder man sieht es daran, dass einige Kinder mehr introvertiert und andere extrovertiert sind, manche mehr kreativ und andere mehr mathematisch, die einen spontan und die anderen strukturiert sind. In welche Richtung meine Fähigkeiten gehen, sagen meine Gene, aber wie stark sie ausgeprägt werden, liegt an mir bzw. an dem, wie meine Umwelt mir als Kind und Jugendliche begegnet ist.
Der Mensch ist ein Produkt seiner Umwelt laut Behaviorismus
Ende des 19. Jh. veränderte sich diese Sicht, dass der Mensch als fertiges Wesen geboren wird, immer mehr und im Laufe des 20. Jh. kam es dann zur Gegenströmung, die im sogenannten Behaviorismus gipfelte. Behavior Verhalten; Laut Behaviorismus ist der Mensch allein durch seine Umwelt prägbar.
Watson, einer der Begründer dieser Richtung sagte: ” Gebt mir eine Schar Kinder und sagt mir, was ich aus ihnen machen soll, einen Gelehrten, einen Handwerker oder einen Mörder und ich mache dies aus ihnen.”
Tatsache ist, dass keine der Extremrichtungen signifikante Ergebnisse bieten kann und wir ja in unserem Umfeld immer wieder sehen, dass unsere Herkunft prägend ist, aber nicht unbedingt unser Leben bestimmen muss und genauso sehen wir, dass in unserer Erbmasse manche Dinge angelegt sind, die nicht veränderbar sind. Ich denke dabei an so manche Familien, in denen bestimmte Eigenschaften feststellbar sind, wie z. B. um positive Beispiele zu nennen, Künstlerfamilien über Generationen. (Bach, Mann)
Mein Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung
Bis hierher gehen wir mit unserem Holz konform. Aber beim Menschen kommt jetzt noch eine andere Komponente ins Spiel, die dieses Stück Holz nicht hat. Das Holz konnte nicht anders, als das zu werden, was in ihm angelegt ist und die Umwelt ihm gegeben hat. Der Mensch kann aus sich selbst heraus und einen wichtigen Teil zu seiner Persönlichkeitsentfaltung beitragen.
Mein “Ichbewusstsein”, mein Wille, mein Verstand, meine Gefühle sind Faktoren, die wesentlich an der Entwicklung meiner Person beteiligt sind.
Dann es ist sichtbar, dass Menschen mit ähnlichen Voraussetzungen, sich völlig unterschiedlich entwickeln können.
Meine Anlagen und meine Erziehung prägen stark, sie geben gewisse Grenzen, aber ich habe die Möglichkeit, diese Grenzen zu verändern, über mich hinaus zu wachsen!!
Ein Vater sagte seinem 40jährigen Sohn als der sich wieder beschweren wollte, dass seine Eltern so viel an ihm nicht richtig gemacht haben und er deswegen jetzt einfach nicht arbeiten kann: Für deine Kindheit und Jugend übernehme ich die Verantwortung, aber seit du 20 bist, bist DU verantwortlich!
Wodurch kann die Persönlichkeitsentwicklung behindert werden?
Frau Reiter trifft immer wieder Menschen, die von sich sagen, “ich kann nichts, ich bin nichts, ich trau mich nicht”. Mit diesem Bild von sich selbst gehen sie schon über Jahrzehnte durchs Leben.
Diese Personen haben eines gemeinsam, eine unsichere Persönlichkeit. Sie trauen sich nichts zu oder jedenfalls sehr wenig, obwohl in den meisten von ihnen viele Schätze verborgen liegen, die bis jetzt überhaupt keine Chance hatten, ans Tageslicht zu kommen.
Mögliche Faktoren, die dies bewirken sind:
Ein hinderndes Lebensmotto
Menschen, die von sich denken: “ich kann nichts, ich bin nichts, ich trau mich nicht”, trauen sich nichts zu, stehen nie für ihre Person ein. Sie empfinden die anderen immer als stärker, die anderen müssten helfen und sollten alles für sie tun usw.
Wieder anderen Menschen sind diese hindernden Gedanken nicht so bewusst, aber sie handeln in verschiedenen Bereichen ihres Lebens danach.
z.B. eine Familie hatte einen ca. 50jährigen Penner, Obdachloser aufgenommen. Er erzählte ihnen seine Geschichte und wie seine Eltern ihm immer sagten, dass er nichts taugt und dass es besser gewesen wäre, wenn sie ihn nicht bekommen hätten. Diese Einstellung der Eltern ihm gegenüber wurde sein Lebensmotto, das ihn diktierte. Er brach die Ausbildung ab, seine Beziehung ging in Brüche und er wurde Obdachloser. In dieser Familie erfuhr er, du bist wertvoll so wie du bist und innerhalb eines Jahres hat er sich total verändert, er blühte auf, wurde aktiv, fing an in einer Gärtnerei zu helfen. Bis er einen „Freund“ aus der früheren Zeit traf und das alte Motto war wieder da.
Die Frage an uns ist, welches Motto zieht sich wie ein roter Faden durch unser Leben? Ist es das Lebensmotto: ich bin dumm, ich bin eine graue Maus, ich bin zu laut, ich bin tollpatschig, ich bin schlampig usw. Solch ein Motto entsteht durch die Erfahrungen in der Kindheit und so regiert die Person auch im Erwachsenenalter, obwohl sie inzwischen ganz andere Fähigkeiten entwickelt hat. Aber diese Fähigkeiten bekamen bis jetzt nicht die Chance, dieses Motto aufzulösen.
Frau Reiter nennt noch weitere Lebenslügen, von denen wir glauben, dass sie die Aspekte unseres Lebens bestimmen und unsere Entfaltung behindern:
- alle müssen mich lieben > dann muss ich mich dementsprechend darum bemühen
- ich muss perfekt sein > dann ist alles was ich tue, nie genug
- jemand anders ist schuld >hindert alle Veränderung im eigenen Leben
- du bist so viel wert wie deine Leistung > werde nur Dinge tun, wo ich weiß, dass ich gut bin
- das Leben sollte leicht sein und fair > bin frustriert und hinterfrage mich selbst
- Gottes- und Elternliebe muss man sich verdienen > Liebe für Leistung macht unfrei.
Dies sind Lügen über Aspekte des Lebens und das Leben wird sich völlig anders gestalten, wenn ich ihnen nicht mehr glaube.
Häufig erlebter Liebesentzug
Es gibt Eltern, die reagieren bei nicht erwünschtem Verhalten ihrer Kinder immer wieder mit Liebesentzug. Dies ist ein starkes Mittel, um uns zu bremsen. „Ich habe dich erst wieder lieb, wenn du brav bist.“ Dahinter kann sich eine Mutter verbergen, die es nicht schafft, ihrem Kind klare Grenzen zu setzen und aus ihrer Hilflosigkeit heraus ihr Kind mit Liebesentzug zur Vernunft bringen will.
Solch eine Bestrafung bewirkt ein schlechtes Gewissen bzw. Angst im Kind und es wird sich bemühen, es den Eltern recht zu machen, damit es wieder geliebt wird. Wenn diese Anstrengung ständig erfolglos bleibt, gehen manche Kinder in die Rebellion. Damit wollen sie die Aufmerksamkeit der Eltern erreichen, auch wenn es eine negative ist. Denn diese ist noch immer besser als gar keine.
Wenn über die Jahre gelernt und erfahren wurde, dass man die Anerkennung und Liebe nur dann bekommen hat, wenn man brav war, sprich dem anderen entsprochen hat, wird man sich nicht auf die Suche machen, wer man selbst ist. Sondern diese Personen haben grosse Sensoren für die anderen entwickelt. Sie wissen sehr genau, was die anderen brauchen bzw. von ihnen wollen. Aber leider nicht, wer sie selbst sind bzw. was sie selber brauchen.
Die andere Auswirkungsmöglichkeit ist, immer danach zu streben, nicht abhängig, nicht unterlegen zu sein und sich gegen jeden Anflug einer eventuellen Abhängigkeit vehement zu wehren. Das äussert sich auch darin, Menschen immer wieder von sich weg zu stossen, falls sie einem zu nahe kommen.
In beiden Bewältigungsmustern ist die Person auf die anderen ausgerichtet und hat keinen Zugang zu ihrem eigenen Ich. Sie weiss nicht, wer sie ist und weiss auch nicht, was sie braucht, wonach sie sich sehnt und was ihr helfen würde.
Aussenorientiertheit ohne Selbstwahrnehmung
Wenn Klienten ihre Geschichte erzählen, fällt immer wieder ein Satz, welchen sie von ihrer Umgebung gehört haben:” Was werden denn die Leute sagen”? Die Sorge darüber, was wer anderer von mir denken oder meinen könnte, beeinflusst mein Handeln und macht unfrei.
Hier zeigt sich, dass die Wahrung der Form oft wichtiger ist als der Inhalt. Einer Freundin von Frau Reiter. wurde als Kind immer wieder gesagt, dass der Sonntag heilig sei und man deswegen bestimmte Dinge nicht tue und zwar all das, was Kindern und Jugendlichen an einem solchen Tag Freude machen würde. Sie erzählte ihr, dass sie am Sonntag nicht draussen spielen durften wegen der schönen Kleider, dies gehöre sich nicht für einen Sonntag. Sie ist heute auch der Meinung, dass der Sonntag ein besonderer Tag sein soll, nur besonders kann doch nicht langweilig heissen!
Traditionsformen bzw. gesellschaftliche Regeln werden oft gewahrt, weil sonst die Nachbarschaft, die Verwandten oder die Gesellschaft einen negativ beurteilt. Eine Klientin erzählte, dass sie unter der Woche spazieren geht, wenn ihr alles zu viel wird. Sie weiss, dass dies in ihrer Umgebung als negativ angesehen wird und so kann sie diese so dringende Verschnaufpause wenig bis gar nicht geniessen.
Wenn wir uns immer danach richten, was die Leute meinen, dann werden wir keine Persönlichkeiten, sondern Wetterhähne werden, denn die Meinungen ändern sich ständig.
Mit meinem Leben nicht versöhnt sein
Zu Hindernissen in der Persönlichkeitsentwicklung können alle Leiderfahrungen im Leben werden. Frau Reiter ist sich sicher, auch in dieser Runde gibt es viele, die gravierendes Leid in ihrem Leben erfahren haben oder wo Dinge nicht so gelaufen sind, wie sie es sich vorgestellt haben. Und gleichzeitig ist sie sich sicher, dass manche dieses Leid in ihr Leben integrieren konnten und andere immer noch damit hadern und womöglich bitter geworden sind oder sehr frustriert. Sie weiss aus der Geschichte vieler Patienten und auch ihrer Familie, dass Leid etwas sehr Schwieriges ist und nicht leicht ins Leben integriert werden kann, aber dass dort, wo es gelingt, die Personen wieder fröhlich werden, wieder Schönes empfinden und geniessen können und sich in der Begegnung mit anderen Menschen beschenken lassen können und auch die anderen beschenken. Wer diese negativen Erfahrungen integrieren kann, wird stärker und markanter werden und trotz widriger Umstände ein erfülltes Leben gestalten können.
Wie kann ich meine Persönlichkeit mehr entfalten?
Frau Reiter zeigt noch einmal unser Holzstück. Es konnte nicht anders, als ein Baum werden und dies auch nur, weil der Same in die Erde kam und es ein entsprechendes Umfeld (Nahrung, Licht) gab.
Wir Menschen können sehr viel dazu beitragen, welche Persönlichkeit wir werden! Denn der Holzschnitzer, unser Schöpfer, hat uns ihm ähnlich gemacht, mit einer Entscheidungs- und Veränderungsfähigkeit.
Entwicklungsaufgaben und Ziele wie sie nach einem heute gebräuchlichen Altersmodell gesehen werden.
Mittleres Lebensalter (ca. 35 bis ca. 65 Jahre)
Ehe und Familie entwickeln
Zunächst steht die Familie im Mittelpunkt. Es ist Zeit, gute Gespräche mit einander zu führen und sich an schönen gemeinsamen Erlebnissen zu freuen, die Kinder im Heranwachsen zu begleiten und schliesslich die Kinder schrittweise in die Freiheit entlassen und sich auf die Ehe zu konzentrieren.
Beruf als Berufung leben
Es ist das Lebensalter, in dem wir Engagement, Zuverlässigkeit und Verträglichkeit gegenüber anderen im beruflichen und privaten Kontext zeigen.
Abschied nehmen
Es gilt das „leere Nest“ anzunehmen, wenn das jüngste Kind aus dem Haus ist, vielleicht auch den Tod von Eltern, Schwiegereltern und einigen Freunden zu betrauern.
Neue Verantwortung übernehmen
Eine neue Aufgabe kann eventuell die Pflege von Eltern oder Schwiegereltern sein oder auch die Mit-Betreuung der Enkelkinder. Wenn Zeit bleibt neben der Berufsberufstätigkeit oder allenfalls nach ihr kann es zu einem Ausbau ehrenamtlicher Tätigkeiten kommen. Wenn die familiären Ausgaben nicht mehr so gross sind, kann Geld für gute Zwecke gespendet werden. Das alles will überlegt sein.
Krankheiten annehmen und gesund leben
Körperliche Einschränkungen, Krankheiten und Gewichtszunahme müssen angenommen werden und zugleich ist es wichtig, mehr für die Gesundheit tun, z.B. täglich 10.000 Schritte mit Hilfe eines Schrittzählers gehen.
Endlichkeit akzeptieren und Ewigkeit erhoffen
Wer sich bisher nicht mit Sterben und Tod beschäftigt hat, sollte es hier, in dieser Lebensphase tun. Gut, wenn man den „Himmel“ als Realität sehen kann.
Junge Alte (60/65 – 74 Jahre)
Entwicklungsaufgabe: Sich nach innen orientieren
Ziel:
- Die Vergangenheit bewältigen
- Die eigene tiefere Identität finden
- Korrigierende gesellschaftliche Impulse setzen
- Eine spirituelle Dimension entdecken und leben
In dieser Phase erfolgt meist ein Rückblick auf die Biografie, sie wird durchgedacht, durchgearbeitet und vervollständigt. Bei der Wende in den sogenannten Ruhestand taucht die Frage auf, was ich mit dem Rest meines Lebens mache. Die nächste Frage, wie mein Leben bisher gelaufen ist, hängt sich gleich an. Es ist eine Chance der Lebensklärung und Vervollständigung gegeben.
Die Aufgabe ist es
- auf das Leben zurück zu blicken,
- auf Erfolge und Misserfolge,
- auf ungelöste Konflikte und gestörte Beziehungen
- auf Lebenspläne und ungelebtes Leben.
im besten Fall besteht die Möglichkeit, ungelöste Konflikte zu lösen, Beziehungen zu heilen, zu verzeihen, sich zu bedanken und die Ernte des eigenen Lebens wahr zu nehmen, um dann der Gesellschaft etwas vom eigenen Reichtum zu geben, sich zu engagieren, indem man z.B. die Rolle eines alten gereiften Menschen als Mentorin, als Berater in einem Lebensbereich (Familie, Schule, Betrieb, Gemeinde, Schöpfung) übernimmt. Man übt so quasi einen Altersberuf aus. Wichtig ist es, das Ende zu bedenken und vorzusorgen mit Testament, Patientenverfügung, Betreuungsvollmacht, Beerdigungsplanung.
Durch das Ausscheiden aus dem Berufsleben müssen Rollen und Positionen losgelassen werden.
Man kann neue Rollen, Strukturen und Aufgaben finden. Welche sozialen Aufgaben will ich übernehmen, welche Ehrenämter usw.
Sich einsetzen für das Wesentliche
Was ist mir wichtig? Enkel hüten, noch älteren Menschen Zeit und ein offenes Ohr schenken, Essen ausfahren, in der Kirche mitarbeiten? Es gibt eine so grosse Palette, je nach Begabung, Interesse und Zeit.
Versuchung: Ablenkung
Konsum
- An Gewohntem hängen bleiben >macht im Hamsterrad weiter wie bisher
- Verleugnung des Alterns
- Anpassung an gesellschaftliche Trends/Moden (Versuch jungendlich zu bleiben)
- Verfestigung der Persona (d.i. der wie eine Maske nach außen gezeigte Teil der
Persönlichkeit) - Unechtheit und Unglaubwürdigkeit
- gebraucht zu werden und wichtig sein zu wollen
Folgen bei Scheitern: Depression und Resignation
Mittlere Alte (75 – 85 Jahre)
Entwicklungsaufgabe:
- Bedenken und reflektieren
- Lebensfrüchte einsammeln
- Sich aussöhnen mit der Vergangenheit
Begrenztheiten annehmen:
Leben lernen mit Behinderungen und Einschränkungen, denn mit zunehmendem Alter nehmen die körperlichen, aber auch die geistigen Kräfte noch mehr ab und die Probleme zu. Immer mehr alte Menschen verlieren in dieser Altersphase ihre Lebenspartner, aber auch andere Altersgenossen, Bekannte, Freundinnen, Freunde und sind dann sehr allein. Themen in dieser Altersphase sind häufig: Trauer und Einsamkeit, aber auch der Umgang mit körperlichen Einschränkungen durch Krankheiten, Demenzen, das Annehmen von Pflegebedürftigkeit und Sterben.
Einsamkeit im Alter
Wie bereits gesagt, ist Einsamkeit natürlicherweise ein Problem des Alters und zeigt sich spätestens, wenn der Lebenspartner gestorben ist. Viele alte Menschen tun sich schwer mit neuen Kontakten und anderen Wohnformen z.B. Altenwohngemeinschaften.
Frau Reiter weist auf die Zusammenhänge von Einsamkeit und Langeweile hin, von der Einsamkeit und mangelnder Strukturierung von Zeit, von Einsamkeit und mangelnden Interessen und Werten.
Auch kann man bei alten Menschen immer wieder Flucht in Krankheiten beobachten, um mehr Kontakt und mehr Zuwendung zu bekommen.
Für die Bewältigung gesundheitlichen Belastungen gibt es kein Geheimrezept. Wichtig aber für den Alltag der meisten ist es, die auch im unscheinbaren Leben vorhandenen Chancen und Möglichkeiten zu nutzen, indem man sich täglich über etwas freut, über den ersten sonnigen Tag nach einem langen Regen, über den ersten Gesang der Vögel im Frühjahr oder die Eichhörnchen im Park, über ein gutes Wort. Eine Haltung, die man schon früh im Leben einüben kann.
Ziel:
- Mit sich selbst im Frieden leben
- Weisheit gewinnen und weitergeben
Versuchung: Flucht
- Rückzug in sich selbst
- Psychosomatische Symptombildung
Folgen bei Scheitern:
- Vereinsamung
- Verbitterung
- Depression
Hochbetagte (ab 86 Jahre)
Entwicklungsaufgabe:
- loslassen
- annehmen
- schenken
- da sein
- eins werden
Das Alter von 85 Jahren zeigt im Leben vieler alter Menschen eine kritische Grenze auf. Diese Altersphase hat alle negativen Beschreibungen des Alters auf sich vereinigt. Gerade vor dieser Altersphase mit ihren großen Belastungen fürchten sich viele Menschen, nämlich vor Verlust der Selbständigkeit, vor der Übersiedlung in ein Pflegeheim, vor Demenz, vor entwürdigender Behandlung, vor übermässigen Schmerzen und vor dem Sterben.
Wenn man es bisher noch nicht getan hat, sollten jetzt unbedingt Testamente, Patientenverfügungen, Betreuungsvollmachten ausgefüllt werden. Auch über Tod und Beerdigung sollte mit Angehörigen geredet werden. Menschen sollen Verantwortung für das Ende ihres Lebens übernehmen; die meisten überlassen es vor allem anderen. Angeblich will immer einer den anderen schonen.
Das grosse Ausmass der Probleme dieser Lebensphase und auch die Angst davor haben mit den Werten in unserer Gesellschaft zu tun. Wenn Schönheit und Jugend, Leistungsfähigkeit und Gesundheit, Durchsetzungsvermögen und Selbstbehauptung, Unabhängigkeit und Selbständigkeit in unserer Gesellschaft so hohe Werte sind, werden sich die Probleme des Lebensendes kaum verändern. Dann werden immer mehr Menschen aktive Sterbehilfe suchen bzw. Suizid begehen.
Ziel:
- Weisheit weitergeben
- Lebenszeugnis geben
- In Frieden sterben
Versuchung:
- Festhalten
- Rückzug in eine andere Welt
Folgen bei Scheitern:
- Verbitterung
- Desorientierung (Altersdemenz)
- vegetieren
- nicht sterben können
Zur Bewältigung der „Reifeprüfung des Alters“ (Junkers in Psychologie heute 11/ 2009 S. 81) gehört es in jedem Fall, den Entwicklungsaufgaben wachsam ins Auge zu schauen, was umso besser gelingt, umso mehr ,“innere gute Objekte“, also Menschen, die wir als innerlich verfügbar bewahren konnten, wir im Laufe unseres Lebens aufnehmen konnten. Also nach guten Vorbildern Ausschau halten, es gibt sie!
Charakter hat man, Persönlichkeit wird man (Frankl)
Der charakterstarke Mensch
Leitsatz: werde, der du bist
Einen Charakter haben bedeutet: eigenartig zu sein, über eine besondere Wesensart zu verfügen, eine eigene Prägung zu haben. Charakterstarke Menschen haben eine eigene Meinung, gehen eigene Wege, verfolgen eigene Ziele. Der Grund liegt darin, dass sie mutig genug sind, ihre Eigenart im Denken, im Kommunizieren, in ihrem Temperament und in ihren Taten zum Ausdruck zu bringen. Ihre Visionen, Pläne, Ziele und Taten stehen im Einklang mit ihrem Wesen. In ihrer Nähe beginnen auch andere Pläne zu schmieden, mutiger zu werden, sie stecken an.
Obwohl alle Menschen Charakterzüge haben, fehlt manchen das Wissen um diese Anlagen oder der Mut zu ihrer Akzeptanz oder die Übung, sie auszudrücken. Hier können wir alle den Raum schaffen, dass Menschen uns von sich, von ihren Einstellungen berichten und diese im Gespräch mit uns formen. Es braucht Raum, Interesse, Annahme, Ermutigung.
Was kann man tun, um die eigenen Charakterzüge zu stärken:
Stärkung der eigenen Charakterzüge durch Vorbildsuche
Welche Menschen haben mich früher fasziniert, welche Berufsgruppen, welche Ziele, welche Visionen und Taten? Wenn wir darüber nachdenken, was uns fasziniert, denken wir über unsere eigenen Wertanlagen nach. Nur das kann in uns das Gefühl der Faszination auslösen, was in unserer Seele auf eine Ähnlichkeit stösst.
Mit sich experimentieren, um den Charakter zu stärken
Man kann sich in unübliche Situationen bringen, unbekannte Rollen übernehmen und Aufgaben. Welche Ziele sprechen einen an? Welche Form der Zusammenarbeit ist für einen motivierend (allein, im Team, Führung übernehmen)? Wie kommt man zu den besten Ideen? Welche Farben wirken inspirierend, welche Gesprächsthemen? Das stille Nachdenken ist wichtig, aber um eine Antwort zu finden, muss man hinausgehen und etwas erleben.
Andere Menschen fragen kann den Charakter stärken
Man kann Freunde und Bekannte fragen, welche Rollen und Aufgaben sie einem zutrauen, welche Ziele, Pläne und Visionen zu einem passen könnten, welche Anlagen und Werte sich in meinen Handlungen und Haltungen zeigen.
Frau Reiter erzählt aus ihrem Leben ein Beispiel: Als ich nicht wusste, ob ich mir die Aufgabe einer Leitenden Ärztin zutrauen soll, habe ich auf einer Wanderung mit einem Freund gesprochen, ob er mich in dieser Rolle sehen würde. Als er mit mir durchgegangen ist, was es dazu braucht, er meinte, dass er dies bei mir sehen könne, ermutigte mich dies mich zu bewerben und ich fühle mich sehr wohl in dieser Rolle.
Die Persönlichkeit
Leitsatz: Forme dich selbst
Ein in sich ruhender, geformter, reifer Mensch ist eine Persönlichkeit. Persönlichkeiten leben in vitaler Weise Werte wie Gelassenheit, Solidarität, Aufrichtigkeit, Besonnenheit und Mut. Sie interessieren sich für die Welt und für andere Menschen. Sie sind anderen gegenüber wohlwollend. Sie haben Ziele und Pläne, diese Ziele stehen aber nicht nur für Eigeninteressen. Hermann Gmeiner, SOS Kinderdorfgründer: „ alles Grosse in unserer Welt geschieht nur, weil jemand mehr tut, als er muss.“ Persönlichkeiten sind weder vom Beifall anderer geblendet, noch von momentanem Scheitern entmutigt. Sie sind authentische Menschen. Worte, Taten, Überzeugungen stimmen überein. Sie stehen nicht im Dienst von Macht, Selbstinszenierung oder Konkurrenz. Ihre Interessen sind immer auch im Dienst anderer, sie setzen sich für etwas Sinnvolles ein, nicht gegen andere, Kooperation spielt eine wichtige Rolle, sie sagen ihre Meinung ohne andere zu verletzen, müssen auf Angriff nicht mit Gegenangriff reagieren, sie sind menschlich geblieben, können sich einer grösseren Kraft anvertrauen, sie sind leidensfähig.
Was können wir tun, damit sich ein Mensch zu einer Persönlichkeit entwickelt?
Man wird durch Selbsterziehung zu einer Persönlichkeit. Persönlichkeitswerdung geschieht dadurch, dass man lernt, auf die Fragen des Lebens reif und aufrecht zu antworten und dadurch, dass man beginnt, sich selbst zu formen. Diesen Prozess können wir von aussen nicht bewirken, nur unterstützen.
Begegnung mit reifen Menschen hilft in der Formung der eigenen Persönlichkeit, Wertschätzung, Wohlwollen und Aufrichtigkeit wirken ansteckend. Man vergisst die Begegnung mit Persönlichkeiten nicht. Persönlichkeiten schaffen Persönlichkeiten. Das ist die Aufforderung an uns, an unsere Persönlichkeitsentwicklung dran zu bleiben.
Nachdenken über die wichtigsten Werte im Leben
Was brauchst du, um ein wertvolles Leben führen zu können? Wofür möchtest du deine Begabungen einsetzen? Wofür bist du bereit, auch Anstrengung auf dich zu nehmen?
Als Beispiel: Giosch Albrecht, der das Institut für Logotherapie und Existenzanalyse in Chur gegründet hat. In höherem Alter war er noch bereit, das Institut zu leiten, weil es ihm ein Anliegen ist, die Logotherapie zu verbreiten, von der er überzeugt ist.
Fragen zur persönlichen Haltung
Wem gehört deine ganz besondere Achtung und warum? Welche wirklichen Persönlichkeiten hast du in deinem Leben kennen gelernt? Interessierst du dich für andere Menschen oder nur für dich?
Gespräche mit Persönlichkeiten sind ermutigend, erfrischend, wohl tuend. Reife Menschen interessieren sich für andere und fragen nach.
Sorgen um das Schöne
Die Persönlichkeitsbildung kann durch die Erfahrung, dass die Welt auch schön, gelingend, heil und heiter sein kann, gefördert werden. Friedrich Schiller: „ Schönheit ermöglicht das Wachstum der Humanität.“ Es liegt auch an uns für das Schöne in der Umgebung anderer zu sorgen und ihre Wahrnehmungsfähigkeit zu fördern. Wir können auf das Schöne hinweisen.
Sich immer wieder auf das, was das Leben wirklich trägt, besinnen
Bei Persönlichkeiten wie Martin Luther King, Dietrich Bonhoeffer, Dag Hammersköld…finden wir als Lebensfundament nicht kurzfristig erreichbare und sehr leicht verlierbare Werte, sondern den Glauben, den Sinn und/ oder eine tiefe Humanität.
Eine Persönlichkeit ist ein in sich ruhender Mensch. Die Fähigkeit, in sich zu ruhen, nennt die Philosophie Besonnenheit. Sich auf das, was letztlich trägt, zu besinnen. Den eigenen Selbstwert, die eigene Existenzberechtigung in ganz tiefen Schichten verankern. Wie erwerben wir diese Fähigkeit?
Gedankenformen: unsere inneren Sätze beeinflussen das seelische Gleichgewicht und die Lebensführung, unsere Einstellung zu uns und anderen Menschen. Sie sind aber wie ein Orchester, das ohne Dirigent willkürlich probt. Wir brauchen gute Sätze, nicht nur von anderen. Menschen, die ein starkes seelisches Fundament haben, stellen sich an den Dirigentenpult. Sie beginnen die Grundaussagen ihrer Gedanken selber zu bestimmen und in diese Grundaussagen tiefe Heilssätze hinein zu nehmen.
Körperliche Gelassenheit: Solange die Bewegungen fahrig und rastlos sind, solange der Gang gehetzt ist, wird die Seele nicht zur Ruhe kommen.
Ein 40jähriger Familienvater meint, “bis 30 bin ich nur gerannt und wusste nicht, wer ich bin!” Um Persönlichkeit zu werden braucht es ein Innehalten, einmal stehen bleiben und zu schauen, zu spüren, was da alles in mir ist an Anlagen, an Fähigkeiten, an Wünschen und Sehnsüchten
Eine Persönlichkeit hat ein klares, lebensförderndes Wertesystem
Ein Wert ist das, was ein Mensch als wertvoll ansieht. Werte können wir im immateriellen Bereich finden: ein Kind, eine Familie, ein Freund, eine Reise oder auch im materiellen Bereich: ein Haus, ein Garten usw. Werte kann man aber auch im zwischenmenschlichen Verhalten finden: Aufrichtigkeit, Gerechtigkeit, Wertschätzung usw. Wenn immer Ich-Werte Vorrang haben, misslingt das Leben. Wenn aber immer Du-Werte Vorrang haben oder Werte der anderen, misslingt es auch. Ein reifer Mensch kann auf die eigenen Werte achten und auch einen Blick für die Du-Werte und jene Wertekreise haben, die weiter von ihm entfernt sind.
Eine Persönlichkeit stellt sich den Aufgaben ihres Lebens
Nicht wir sind es, die dem Leben Fragen zu stellen haben, sondern das Leben stellt Fragen an uns, so Frankl. Dieses Fragen geschieht durch Aufgaben, die durch das Lebensalter oder durch die Lebenssituation gestellt werden. Wir müssen persönliche Antworten darauf geben. Wir antworten durch unseren Einsatz, durch unser Tun, durch unsere Haltung oder dadurch, dass wir etwas nicht tun. Durch das bewusste Antworten geschieht Sinn in unserem Leben.
Eine Persönlichkeit setzt sich für eine lebenswerte Welt ein. Eine Persönlichkeit setzt sich für sich selbst ein, kann sich aber auch für Ziele einsetzen, die ausserhalb ihrer Eigeninteressen liegen. Sie kann Verantwortung für ihre nächsten Mitmenschen übernehmen. Ganz im Sinne Hillels: Wenn nicht ich, wer dann? Wenn nicht jetzt, wann dann? Aber wenn nur für mich: was bin ich dann? Das Faszinierende ist, dass Persönlichkeiten sich immer wieder für etwas einsetzen, was nicht nur für ihre unmittelbare Umgebung ein Gut ist, sondern viel weit reichender wirkt. Der Einsatz ist unabhängig vom Lohn oder Beifall. Martin Luther King wollte Versöhnung und Gerechtigkeit zwischen Schwarz und Weiss. Viktor Frankl wollte den Weg zum Sinn aufzeigen. Im Leben von Persönlichkeiten entdecken wir Leidenschaft, sich für Ideen und Ziele einzusetzen, die auch anderen zu gut kommen können, Leidenschaft sich für Dinge zu engagieren, die die Welt ein bisschen besser machen, als sie gerade ist, die das Leben von Menschen lebenswerter machen. Die Leidenschaft von Persönlichkeiten entspringt aus einem Dreifachen: Sie sehen den Handlungsbedarf, sie werden durch die Not berührt, sie müssen das Beste, was in ihnen steckt, geben.
Persönlichkeiten können lachen
Sie können das Heitere, das Leichte, das Unbeschwerte auch leben. Wirkliche Persönlichkeiten sind milde in ihrem Urteil, obwohl sie einen klaren Standpunkt vertreten. Sie könne wohlwollend mit Schwächen umgehen, auch mit den eigenen.
Logotherapie ↔ Link anklicken